Andrew Luan war ein «Bad Guy». Er handelte für die Deutsche Bank in New York mit faulen Krediten, bis er wegen der Finanzkrise auf die Strasse gestellt wurde. Nun hat er die Krise zu seinem neuen Geschäft gemacht: Seit kurzem bietet er an der Wall Street, im Herzen des Kapitalismus, Financial Crisis Tours an.
Wir treffen unseren Führer Tom vor der Börse, der New York Stock Exchange (NYSE). Tom hat bis vor kurzem für Goldman Sachs gearbeitet, aber nicht als Händler, wie er betont: «Ich machte nur Powerpoint-Präsentationen – an mir liegt es sicher nicht, dass der Markt den Bach runterging!» Unter den Teilnehmern der Führung ist ein Paar aus England, ein Australier und ein – New Yorker Anwalt. Warum er? «Ich will die Krise besser verstehen», sagt er. Im Hintergrund protestieren Stahlarbeiter aus Kanada gegen einen brasilianischen Minenchef, der heute eine Rede in der Börse halten will. «Who are we? Steelworkers!», brüllen sie. So laut, dass wir unseren Tourführer fast nicht verstehen. Er sagt: «Nur noch zehn Prozent der Fläche der NYSE braucht man heute für den Handel, der Rest wird elektronisch abgewickelt.» In ein paar Jahren sei die Börse ein Museum – oder ein Fernsehstudio.

Am Platz vor der NYSE, Ecke Wall Street und Broad Street, konzentrierte sich einst die Macht. Die Federall Hall National Memorial war das erste Kapitol der USA, George Washington leistete hier seinen Amtseid, die Bill of Rights wurden hier verabschiedet. Gegenüber steht das Gebäude der J.-P.-Morgan-Bank. John Pierpont Morgan war der mächtigste Financier seiner Zeit, potenter als die amerikanische Regierung: Zweimal bewahrte er sie – in einer Krise wie heute – vor dem Bankrott, 1895 und 1907. Unser Guide Tom zeigt einen historischen Cartoon: Zu sehen ist ein Ruderboot, darin sitzen ein schwächlicher kleiner Uncle Sam, neben ihm rudert der grosse starke J. P. Morgan. Vor seiner Bank fand 1920 auch der erste Terrorakt New Yorks statt: Eine Bombe explodierte in einem Pferdewagen, 38 Menschen starben, 400 wurden verletzt. Die Einschlaglöcher sind heute noch zu sehen.
Federal Reserve, Deutsche Bank, AIG, Standard & Poors
Wir wandeln weiter durch die Schluchten des Finanzviertels, lernen Fachbegriffe wie CDO, stehen vor der Federal Reserve, wo etwa 5000 Tonnen Barrengold lagern, erfahren, warum Goldman Sachs keine Investmentbank mehr ist, schauen an den Wolkenkratzern der Deutschen Bank oder der Bank of the United States hoch. Das höchste Gebäude im Viertel ist jedoch der Sitz von AIG. Lange verweilen dürfen davor nicht: «Die Sicherheitsleute sind nervös», sagt Tom. AIG hat die faulen Kredite der Banken versichert und die Finanzwelt damit fast in den Kollaps getrieben. Das Firmenlogo wurde demontiert, damit die Leute nicht wissen, an welche Hausfassade sie die Tomaten schmeissen müssen.
Ein imposantes Gebäude ist auch jenes der Rating-Agentur Standard & Poor’s. «Jene Agentur, die all diesen ?Crap? mit Triple-A bewertet hat», sagt Tom. Er liest ein abgehörtes Gespräch vor. Official 1: «Wir sollten dieses Unternehmen nicht bewerten, es ist Schrott.» Official 2: «Ja, ich weiss, aber wir bewerten alles.» Die Rating-Agenturen standen in einem Interessenskonflikt, erklärt Tom: «Die Firmen, die sie bewerten mussten, zahlten sie gleichzeitig dafür.»
Fazit: Die Tour bietet einen Mix aus geschichtlichen und aktuellen Ereignissen, zeigt die Zusammenhänge auf. Einziger Wermutstropfen: Ein Blick hinter die Fassaden fehlt, zu gern hätten wir zum Beispiel einen Handelsraum besichtigt oder mit einem arbeitslosen Händler gesprochen. Immerhin, ein Gespür für die Krise erhält man in den Lokalen des Quartiers: Angesagt sind derzeit die «Recession Menus».
Der Artikel wurde von Stefanie Rigutto geschrieben und am 8. November 2009 in der SonntagsZeitung veröffentlicht. Die Welt am Sonntag hat ebenfalls schon über die Wall Street Tours in New York geschrieben.
Buchen kann man die Angebote direkt bei The Wall Street Experience, Wall Street Tours and Events. Es werden verschiedene Touren angeboten. Die Financial Crisis Tour **Highly Acclaimed** kostet für zwei Personen 90 Dollar und dauert zwei Stunden. Die NYC Financial Capital Tour **The Grand Tour** dauert fünf bis sechs Stunden und kostet 180 Dollar für zwei Personen.